Von TikTok zu Todestrieb: Wie die deutsche Opernregie die Post-Ironie umarmt

Beginnen wir mit einer Perücke. Kein alltägliches Gewand, sondern eine platinblonde Page. Sie sitzt auf dem Kopf eines Chorsängers in Kratzers Tannhäuser. Er streamt seine eigene Kreuzigung live aus einem Weimarer Diskobad. Das ist keine Metapher. Das ist Bühnenrealität. Die Kamera fährt zurück und zeigt nicht Erlösung, sondern eine Wolke aus Dampf und Absicht. Die Pointe besteht darin, dass es keine Pointe gibt. Vielleicht gab es einmal eine, doch die wurde totgememed, auf dem Sofa einer Dramaturgin obduziert und driftet nun durch den Opernsaal wie eine geisterhafte Emoji-Spur.

Deutsche Oper war schon immer ein wenig exzentrisch. Das gehört zum Spiel. Aber ein grundlegender Wandel ist eingetreten. Das, was einst provozierte, wirkt heute abgegriffen. Die religiöse Symbolik ist seltener. Nacktheit bleibt unverbindlich. Wassertonnen sind längst leer. Die heroische Deutung tritt der Ermüdung. Was bleibt, ist ein neuer Modus — fragmentiert, ambivalent, digital gesättigt, nicht interessiert daran, in einem Tweet zusammengefasst zu werden.

Die Regie befindet sich in ihrer postironischen Phase. Oper strebt nicht nach Coolness. Niemand in Stuttgart zielt auf virale Hits. Vielmehr findet eine Neukalibrierung statt. Die Realität holt die Seltsamkeit endlich ein. Und Oper, merkwürdigerweise, wirkt plötzlich wie das einzig noch kohärente Gefüge.

Kratzer und die Semiologie des Fallens

Tobias Kratzer dirigiert keine Opern. Er verarbeitet sie neu. Sein Tannhäuser ist keine Interpretation. Er ist ein Reassemblage. Pommes, Dragqueens, Go-karts, ein anarchischer Zwerg mit Clownsgesicht und eine Venus aus dem Berliner Fetischrave. Nichts fügt sich logisch zusammen, doch alles gehört zusammen. Genau das ist das Geheimnis. Die Logik ist nicht narrativ. Sie ist emotional. Sie funktioniert wie YouTube.

Kratzer erkennt die neue Haltung des Publikums. Es sitzt nicht mehr passiv im Dunklen. Es schaut, es kommentiert, es dokumentiert, es scrollt. Er trifft es dort, wo es sich bereits befindet. Nicht im Libretto, sondern im Scroll. Er erklärt nicht. Er unterbricht. Bedeutung bricht. Sie verschaltet sich wie ein flackernder Feed.

Das ist kein Mangel an Respekt. Im Gegenteil. Er verehrt Wagner. Und gerade deshalb lässt er ihn atmen. Selbst wenn das Atmen nun nach Nikotingummi und spätkapitalistischer Düsternis riecht.

Sharon und die flüssige Bühne

Yuval Sharon agiert anders. Wo Kratzer zersplittert, schwimmt Sharon. Sein Lohengrin in Karlsruhe entfaltet sich fast lautlos, beinahe träumerisch. Ohne Pathos, ohne Alarm. Dafür mit einer dichten Atmosphäre, die man kaum bemerkt, die sich laufend verändert, während man schaut. Oper als Spiegel, als Echo, das zurückblickt.

Er ist kein Amerikaner in Deutschland, der das tradierte System verwaltet. Er ist eher ein Berlinerkünstler, der das Narrativ flüssig gestaltet. Technik ist keine Schicht, sondern Struktur. LED-Flächen atmen. Bildprojektionen spiegeln Gedanken. Sharon modernisiert nicht, er implementiert. Seine Konzeption ist nicht zeitgemäß. Sie erscheint unvermeidlich.

Kosky, Guth, Loy — die Kühnheit der Zurückhaltung

Kosky war früher der ungekrönte König der Provokation. Heute wirkt er wie ein Pater. Er treibt Chöre an, baut szenische Kaskaden, bewegt Körper wie aus einem Musical. In der Ära ironischer Distanz wirkt koskysches Vergnügen fast rebellisch.

Guth und Loy galten als Minimalisten. Doch inzwischen erscheinen sie radikal. Guth inszeniert wie ein Dichter der Überwachung. Spannung wächst ohne Knall. Loy reduziert bis Stille wirkt lauter als Worte. Diese Regisseure verweigern das Meme-Spiel. Sie referieren nichts. Sie bauen sakrale Räume mitten in der Algorithmenwelt. Das erfordert Mut.

Holzinger und die Rückkehr wahrer Gefahr

Dann ist da Florentina Holzinger. Wo Kratzer reprogrammiert und Sharon fließt, schlägt Holzinger ins Gesicht. Ihre Sancta in Stuttgart löste Ohnmachtswellen beim Publikum aus. Piercing, Blut, Rituale. Keine Provokation mit Schauspielabsicht, sondern Konfrontation. Körpertheater trifft Schmerzlabor.

In einer Szene der ambienten Ironie kehrt sie zurück zum physischen Erleben. Nicht Stimmkunst zählt. Nur Körper zählt. Oper als Widerstand, als Event, als Voyeurismus mit Folgen. Nicht für jeden. Aber unvergesslich.

Kruse und Schneider — die Zukunft, die schon stattfindet

Unterschwätzt, doch hörbar neue Stimmen. Carmen C Kruse gestaltet Opernhappen wie Gemeinschaftsrituale. Ihre Judith von Shimoda erzählt nicht. Sie schafft Räume. Saßen wir in Protestgruppen oder Schlafsofas, hieß es Manifest.

Aileen Schneider agiert klein und leise. In Frankfurt, besonders bei Reimann-Produktionen, entwirft sie intime Bühnenwunden, feinverästelt. Hier ist keine verschwendete Geste. Ihrem Personal sieht man Menschen an, keine Typen. Keine Großbühne — eher Mikrokosmos.

Diese Regisseurinnen geben einen Hinweis: Nicht durch radikale Bilder, sondern durch radikales Vertrauen in den Stoff kommt das nächste Kapitel.

Kerck und die Bildmaschine Oper

Daniela Kerck begann als Bühnenbildnerin. Man merkt es ihr an. Ihre Produktionen wirken wie tragische Modefotografien im Dauerfeuer der Kamera. Bild ist kein Symbol. Es ist Ereignis.

Ihre Turandot in Wiesbaden bildete eine visuelle Überdosis. Rahmen, Skulpturen, Projektionen. Nichts stand flach. Alles vibrierte. Sie inszeniert so, wie man Anschauen denkt. Zuerst visueller Genuss. Dann Deutung.

Das ist kein Vorwurf. Sondern ein Manifest.

Post-Ironie und der Schatten der Bedeutung

Regie wollte einst provozieren und hat die Themen auf der Bühne zur Schau gestellt. Heute scheinen diese Schutzschilder verrostet. Die Regie verspottet nicht länger. Sie dramatisiert emotionale Residuen. Sie fragt nicht, welch Botschaft die Oper trägt. Sie inszeniert, wie es sich anfühlt in der Gegenwart zu leben. Unlogisch, ambivalent, schön, verrückt.

Keine Satire mehr. Emotionale Textur reicht. Es gibt keine Auflösung. Nur Flimmern. Der Vorhang öffnet sich. Die Pointe bleibt aus. Die Sängerin tritt in Jogginghose auf und singt, unsicher, ob jemand zuhört. Aber vielleicht wird gerade das aufgenommen. Vielleicht wird das geteilt. Vielleicht sagt ein Freund: das fühlt sich echt an.

Coda mit Nachhall

Ein letzter Moment. Eine Sängerin allein in einem weißen Raum. Sie singt Mozart. Neben ihr ein Bildschirm, der ihr Gesicht zeigt. Das Publikum ist nur digital anwesend.

Wir sehen es eine Woche später. Im Bett. Auf dem Telefon. Mit halbweggedrücktem Ton. Wir denken, es ist absurd. Wir denken, es ist genial. Wir schicken es weiter.

In diesem Moment hat die deutsche Regie wieder getroffen. Nicht mit Wahrheit. Nicht mit Klarheit. Sondern mit Gefühl. Fragmentarisch. Unvollständig. Genau wie alles, woran wir noch glauben. Aber es klingt.

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